Wenn man eines in diesem Lande feststellen kann, dann ist es eine Verrohung des Stils. Ein Kinderchor besingt „Oma, die Umweltsau“, Muslime skandieren vor einer Synagoge „Scheißjuden“ (Gelsenkirchen, 12. 5. 2021) und Jan Böhmermann erfreut mit anderweitigen Beschimpfungen. Ein weiteres Beispiel für diese Verrohung lieferte jüngst die WAZ. Von E. Noldus.

Der Text als pdf-Datei: 20220428d_WAZ-Karikatur

Menschen als Ungeziefer zu bezeichnen oder sie als solche zu zeigen, ist moralisch verwerflich, um sich vorsichtig auszudrücken. Mindestens ebenso verwerflich ist es aber auch, dazu zu schweigen. Oder ist es symptomatisch für den geistigen Zustand dieses Landes, daß die nachfolgende WAZ-Karikatur niemandes Widerspruch hervorrief?



Obige Karikatur erschien sinnigerweise am 20. April; just am gleichen Tage, an dem nicht nur Jasmin „Blümchen“ Wagner Geburtstag hat. Sie zeigt einen „Schädling“, der sich durch einen Laib Brot namens „Ukraine“ frißt. Unterzeile: „Schädlingsbefall: Hunger droht.“

Als wenn diese Anspielung noch nicht genug ist, ist eine russische Fahne eingezeichnet, um den Schädling, der dort am Werke ist, auch deutlich genug zu be– zeichnen.

Wir möchten den Karikaturisten „NEL“ und besonders die verantwortliche WAZ-Redaktion daran erinnern, daß Rußland der ganzen Welt eine reichhaltige Literatur und großartige Musik geschenkt hat. Deutsche und Russen waren über hundert Jahre lang direkte Nachbarn und die Deutschbalten eine kulturelle Brücke zwischen beiden Völkern.

Diese Form der Nachbarschaft ist verschwunden und hat in beiden Völkern nach zwei Kriegen tiefe Wunden hinterlassen. Was Stalin und den Bolschewiki vom Klassenstandpunkt nicht paßte, wurde umgesiedelt oder ausgerottet; desgleichen verfuhren Hitler und das NS-Regime nach dem Rassenstandpunkt.

Alle „Russen“ waren Untermenschen und wurden entsprechend behandelt. Diese Hybris ist den Deutschen zum Verhängnis geworden; und vielfach haben sie dafür bezahlt. Brandt brachte einst den Mut auf, eine neue Ostpolitik zu beginnen, die mit dem Kniefall von Warschau auf unnachahmliche Weise ihr Sinnbild fand – um Verzeihung bitten, ohne zu fordern. Damals war höchst umstritten, ob man damit nicht das eigene Leid verdrängte und das von den Vertriebenen erlittene Unrecht bagatellisierte, indem man das Geschichtsbild der Sieger übernahm.

Wie jener Kniefall zu bewerten ist, wird immer eine Frage ohne eindeutige Antwort bleiben. Aber eines hat jene neue Ostpolitik bewirkt: Daß man überhaupt mit dem Feind von gestern sprach, daß man Kontakte knüpfte und daran ging, den Eisernen Vorhang zu überwinden. Es mag geholfen haben, daß von denjenigen, die in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten waren, stets ein Unterschied gemacht wurde zwischen den Menschen und dem Regime, welches jene Lager betrieb.

Man täte gut daran, sich an Menschen wie Lew Kopelew oder Alexander Solschenizyn zu erinnern, die ihrerseits einen Unterschied machten zwischen den Deutschen und dem NS-Regime. Wer nichts davon weiß, möge einmal das kleine Buch „Warum haben wir aufeinander geschossen?“ lesen, in welchem Kopelew und Heinrich Böll sich ihre Geschichte im Rußlandfeldzug erzählten.

Seit der Wiedervereinigung ist die Sowjetunion nicht mehr ein Faktor in der Innenpolitik – siehe Weimarer Republik – oder Teil der Lebenswirklichkeit in Mitteldeutschland. Die geographische Nachbarschaft ist aufgehoben. Polen und Weißrußland liegen nun dazwischen; und man hat sich gegenseitig aus den Augen verloren – trotz Michail Gorbatschow. Daraus entsprang die Unfähigkeit der deutschen Regierungen, eine solide Rußland-Politik unter kluger Berücksichtigung der russischen Sicherheitsinteressen zu formulieren. Horst Teltschik hat dazu jüngst in einem Interview interessante Anmerkungen gemacht.1

Wir zahlen für jene Unfähigkeit einen hohen Preis, denn das Risiko einer kriegerischen Auseinandersetzung ist real. Aber auch geistig ist der Preis hoch, wenn uns die Medien lehren – und sei es „nur“ in der Karikatur – Menschen als Schädlinge zu betrachten.