Die nachfolgende Buchbesprechung ist eng mit einem Bericht über eine Veranstaltung am 12. 9. 2022 im Bert-Brecht-Haus verknüpft. Ali Can las aus seinem Buch „Mehr als eine Heimat. Wie ich Deutschsein definiere.“ Von E. Noldus.

Der Text als pdf-Datei: 20220919b_Can_Heimat_20220912

Hinweis:

Jahrgang 1993, studierte Ali Can in Gießen Deutsch und Ethik auf Lehramt. Er ist Mitbegründer und Leiter des Essener „VielRespektZentrums“. Seine Aktivitäten kann man als Öffentlichkeitsarbeit im Bereich gesellschaftspolitischer Themen rund um die Zuwanderung nach Deutschland charakterisieren. Der nachfolgende Artikel versucht, Cans Ansichten und Ansätze, wie sie in dem Vortrag und in dem Buch erkennbar werden, nachzuzeichnen. Auf Wertungen hat der Verfasser bewußt verzichtet.

Einstieg in das Thema: Interviews aus Essen.

Die Veranstaltung begann mit einer Begrüßung der Anwesenden (insgesamt etwa 30 Personen, darunter ca. 5 Männer) durch Herrn Ruschke. Seitens des Integrationsrates als Mitveranstalter sprach dann Frau Erdas einige Worte zur Veranstaltung und zu den Aufgaben des Integrationsrates. In diesem Zusammenhang betonte sie den Anteil der Nichtdeutschen an der Bevölkerung Oberhausens (etwa ein Drittel) und an den Kindern bis zu sechs Jahren (60 Prozent) mit besonderer Freude: Die bunte Gesellschaft sei Realität. Dann sprach sie über die Kampagne „Vielfalt ist meine Heimat“ und von den „fundamentalen Werten des Grundgesetzes“. Apodiktisch erklärte sie in Anspielung auf das „Vielfalt“-Symbol: „Die Zukunft gehört den bunten Adlern wie Ali Can.“

Danach begrüßte Herr Can die Anwesenden, stellte sich persönlich vor und betonte, wie schön es sei, wieder „hier“ zu sein. Er sei vor kurzem in Wurzen (Landkreis Leipzig) gewesen.1 Eine der ersten Fragen des Veranstalters sei gewesen: „Bringen Sie Polizeischutz mit oder sollen wir das für Sie organisieren?“

Dann kündigte Herr Can an, vier Passagen aus seinem Buch „Mehr als eine Heimat. Wie ich Deutschsein neu definiere“ vorlesen zu wollen. Die Quintessenz seines Buches sei die Erkenntnis, der Weg führe von kultureller Eindeutigkeit hin zur Mehrdeutigkeit.

Die Auswahl der Passagen verrät etwas darüber, wie das Buch zu lesen ist. Herr Can begann – nicht zufällig – mit „Lehren aus der Essener Innenstadt“ (Seite 55ff). Im Herbst 2018 führte er in Begleitung eines Kamerateams in seiner – derzeitigen – Heimatstadt Essen Interviews mit Ausländern durch.

Rassismus- oder Diskriminierungserfahrungen seien nicht direkt geäußert worden. Von ihm vorgetragene Beispiele seien allerdings von den Befragten bestätigt oder kommentiert worden. Die oft mangelhaften Sprachkenntnisse hätten vielleicht manche Befragten davon abgehalten, sich zu äußern, zumal vor einer Kamera. Dennoch habe er überraschende Erkenntnisse gewonnen:

„Trotz ähnlicher Erfahrungen gingen die meisten meiner Gesprächspartner anders mit Diskriminierung um als ich. Mein Bedürfnis, mich als Deutscher zu positionieren und mich mit Deutschland zu identifizieren, teilte kaum einer von ihnen. Es schien fast so, als ob sie sich an einem anderen Punkt der Integration befänden – oder als ob Deutschsein für sie gar nicht so wichtig wäre.2

Im Vortrag setzte Herr Can mit einer Schilderung seiner Biographie fort. Die Interviews hatten einen Denkprozeß in Gang gesetzt, der ihn zu einem anderen – oder tieferen – Verständnis seiner Identität führen sollte. Er habe sich als integriert, mit einer wie auch immer gearteten deutschen Identität, gesehen. Aber: „Integration heißt nicht, Experte sein. Man muß sich informieren.“

Eine Erkenntnis allgemeiner Natur nach den Innenstadt-Gesprächen war die, daß die Einwanderung in ein anderes Land zunächst bedeutete, sich mit den elementaren Bedürfnissen des täglichen Lebens befassen zu müssen. Dessen Herausforderungen waren ganz praktisch zu bewältigen. Erst nach einer gewissen Zeit habe man sein Leben geordnet, sich eingelebt und die Phase der „strukturellen Integration“ erreicht:

„Vor der strukturellen Integration spreche ich nicht über Rassismus.“

Cans Interviewpartner hatten also vielfach die Phase der „strukturellen Integration“ noch nicht oder nur graduell erreicht. Das Nachdenken über sich und das Land, in dem man nun lebt, kommt erst dann, wenn man Zeit zum Nachdenken hat.

Über den Zustand der Gesellschaft – die Causa Özil.

Danach sprach Herr Can über Mesut Özil und die Folgen eines Treffens mit dem türkischen Ministerpräsidenten Erdogan in London. Ein Photo zeigte Erdogan mit Özil und Ilkay Gündogan, ebenfalls ein Spieler der deutschen Nationalmannschaft türkischer Herkunft. Zwischen Mai und Juli 2018 gab es eine breite öffentliche Debatte, in der Politik, gesellschaftliche Integration und sportliche Aspekte eine Rolle spielten.

Özil war für Can, der in seiner Jugend selbst Vereinsfußballer gewesen war, ein Idol, weshalb jene Vorgänge eine nachhaltige Wirkung auch auf Can ausübten. Man erkennt das auch indirekt daran, daß die Ereignisse in Cans Buch einseitig (so ist jedenfalls der Eindruck) geschildert und teilweise sehr emotional bewertet werden. Die Thematik, deren Komplexität Can allerdings nicht unterschlägt, läßt sich kaum in wenigen Worten nachzeichnen. Wichtige Aspekte nach Can waren:

Özil sei von den Medien als Musterbeispiel der Integration aufgebaut, aber durch eine Übersteigerung letztlich als Gallionsfigur mißbraucht worden.

Migranten seien Deutsche, wenn sie funktionierten; und Immigranten, wenn sie ungemütlich werden oder Fehler machten.

Die mediale Debatte sei überaus hitzig geführt worden; schließlich habe man Özil medial ausgebürgert.

Cans Schlußfolgerung: „Die Integration ist gelungen, wenn ich Fehler machen darf, ohne ausgebürgert zu werden.“

In diesem Zusammenhang benutzte Can in seinem Vortrag den Ausdruck „migrantifizieren“. Damit bezeichnet er die Reduktion einer Person auf Stereotype, die mit der ethnischen Herkunft der Person verbunden wird. Dieser Effekt sei auch in der Causa Özil zu beobachten gewesen, der ja nicht so funktioniert habe, wie man es erwartet hatte.

Er sehe, so Can, in der breiten Mehrheit der weißen Bevölkerung (sein Ausdruck) eine Erwartungshaltung in bezug auf bestimmte Verhaltensweisen. Die „weißen Deutschen ohne Migrationshintergrund“ hätten – automatisch ?! – eine Richterperspektive.

Dabei führte Can während seines Vortrages einige Beispiele aus eigenem Erleben an, mit denen er aufzeigte, daß Deutschland regionale Unterschiede aufweise und nicht einheitlich durchgeformt sei. Die Deutschen seien „außerordentlich vielgestaltig und regional verschieden“. Aber sobald Migranten dazu kämen, gebe es eine Dichotomie3 – „wir Deutsche – ihr Migranten“.

„Integration macht keinen Sinn“, so Can weiter. Man beschreibe mit dem Begriff der Integration eine kulturelle Erwartungshaltung dessen, was der Migrant zu erfüllen habe. „Es gibt keine gelungene oder gescheiterte Integration.“ Es gebe nur die Frage, ob jemand die Gesetze einhalte oder nicht.

Diesen Teil des Vortrages schloß Can mit Zitaten verschiedener Personen nichtdeutscher Herkunft ab, wo es um die (Nicht-) Definition von Deutschsein ging. Dabei fielen Begriffe wie „DeutschPlus“ (weiße Deutsche mit Migrationshintergrund) und „DeutschMinus“ (weiße Deutsche ohne Migrationshintergrund).4 Immerhin erkannte Herr Can an, daß Migranten eine sehr heterogene Gruppe darstellen; und: „Ich kann nicht für alle Migranten sprechen.“

Etwas über die Persönlichkeit Ali Cans.

Im Buch „Mehr als eine Heimat“ nimmt die MeTwo-Kampagne Cans einen breiten Raum ein, im Vortrag nicht. Aber er lohnt sich, auf zwei Aspekte des Buches einzugehen, weil sie etwas über die Persönlichkeit des Autors aussagen.

Die MeTwo-Kampagne5 macht aus Ali Can eine Person des öffentlichen Lebens. Als solche erfährt er hautnah die Unterschiede zwischen seiner Eigen- und der Fremdwahrnehmung. Man wird oft nach stereotypen Etikettierungen beurteilt und ruft entsprechende Reaktionen hervor. Das Ergebnis ist ein Lernprozeß, um mehr oder weniger gut mit den Differenzen klarzukommen.

Die Beschäftigung mit Rassismus und Identität im öffentlichen Raum bringt ihn mit Personen zusammen, die ähnliche Ansichten wie er haben. In dieser Phase vertieft er sich in die Thematik und steigert sich hinein, bis persönliche Freundschaften dadurch beeinträchtigt werden.6

Eine in seinem Charakter angelegte Fähigkeit zur fruchtbaren Selbstkritik hilft ihm, mit der neuen Situation innerlich ruhiger umzugehen und eine unverstellte Persönlichkeit zu bleiben.

Man kann Cans Zugriff auf den Begriff des Deutschseins nicht verstehen, wenn man nicht seinen familiären Hintergrund kennt, dem er in seinem Buch großen Raum widmet. Als Kind alevitischer Kurden mit türkischer Muttersprache (eine Entscheidung der Eltern, den politischen Verhältnissen der Türkei geschuldet) in Deutschland aufgewachsen, erlebt er immer wieder Momente, in denen er auf einzelne Teile seiner komplexen Herkunft reduziert wird. Das betrifft nicht nur die Wahrnehmung beispielsweise durch deutsche Mitschüler. So ist er den einen nicht türkisch und den anderen nicht kurdisch genug. Eine Folge ist: Deutschsein im Sinne Cans ist weitgehend von jeglicher Herkunft losgelöst.

Und weiter: Stereotype sind immer negativ und tendenziell rassistisch. Positive Stereotype wie die von den Franzosen als perfekte Liebhaber oder von Thailändern als stets freundliche Menschen gibt es für Can nicht. Im Gegenteil: Auch das Hervorheben positiver Eigenschaften bei Nichtdeutschen (Deutschkenntnisse etwa) ist rassistisch belegt; zumindest, wenn es von „weißen Deutschen“ vorgebracht wird.

„Menschen, die migrantifiziert sind, haben weniger Teilhabe.“ Auch das ein Satz aus dem Vortrag, der – nach unserer Ansicht – auf einer abstrakten Ebene das Leben der Eltern wiederspiegelt. Beide sind zunächst in Berufen mit niedriger Qualifikation tätig; der Vater wird als Zeitarbeiter ausgebeutet. Durch harte Arbeit und Entschlossenheit im richtigen Moment gelingt ihnen der Sprung in die Selbständigkeit. Ein Döner-Imbiß – etwas klischeehaft, wie Can selbst augenzwinkernd anmerkt – bildet nicht nur die Existenzgrundlage, sondern dient gewissermaßen auch als Fenster zur Welt. Spätestens damit ist die strukturelle Integration gelungen – zum Begriff siehe oben – und auch geistig richten sich seine Eltern in ihrer neuen Heimat ein.

Mehr als eine Frage?

„Woher kommst Du?“ Diese alltägliche Frage bildet einen weiteren Anlaß innerhalb des Vortrages, um aus dem Buch vorzulesen. Ob dahinter eine positive Form der Neugier auf den Mitmenschen steckt oder das Bedürfnis nach stereotyper (im Sinne Cans) Kategorisierung lauert, ist nach Can eine Frage des Kontextes. Jeder Mensch weiß aus eigener alltäglicher Erfahrung, daß die sogenannte „Woher-Frage“ je nach den Umständen sowohl verschieden beantwortet als auch empfunden werden kann. Daraus wird im Buch ein komplettes Kapitel gemacht; und hier hat man ein einziges Mal das Gefühl, daß der Autor über sein Ziel hinausgeschossen ist und unnötig dramatisiert.

Ein zentrales Motiv in Cans Deutschsein-Definition ist das des ständigen Wandels, dem alles unterworfen ist. So änderten sich die Sprache und ihre Begriffe ständig. Die Mehrdeutigkeit überfordert den Menschen. Daraus erwächst das Bedürfnis, über Heimat zu debattieren. Der deutschen Gesellschaft, die Can als homogen (im ethnischen Sinne) wahrnimmt und sie damit zugleich in eine imaginäre Vergangenheit verlegt, hält er „bei allem Verständnis“ für deren Überforderung entgegen, der Wandel sei da und vollziehe sich mit exponentieller Schnelligkeit. Cans den Vortrag abschließende Definition lautet:

„Deutschsein ist die Summe aller Menschen, die in Deutschland leben.“

Schlaglichter aus der Fragerunde.

Dem Vortrag folgte eine Fragerunde, die hier nicht wiedergegeben werden kann. Es gab sehr verschiedene Fragen – kein Wunder bei dem Thema – und oft das Bedürfnis, daran jeweils längere Bemerkungen zu knüpfen, die eines klar erkennen ließen: Das Thema „Identität“ ist jenseits aller wissenschaftlichen Rationalisierungen stets auch die Ausprägung einer individuellen Subjektivität. Deshalb aus der Fragerunde nur einige Beobachtungen:

Eine junge „Deutsch-Türkin dritter Generation“ besitzt beide Staatsbürgerschaften und möchte – als Ausdruck ihrer gesamten Identität – keine missen. Can dazu: Es handelt sich um eine Scheindebatte. Es gebe keine Verbindung zwischen „Papier und Identität“. Ein deutscher Paß drücke lediglich einen juristischen Status aus. Er selber könne gegenüber „AfD-Menschen“ behaupten, er sei genauso deutsch wie sie selbst.7

Eine Teilnehmerin, Jahrgang 1966, seit 1970 in Deutschland, habe keine MeTwo-Erfahrungen (also: Diskriminierung) gemacht. Eher im Gegenteil: sie habe in ihrer Schulzeit stets Unterstützung gefunden. Damals seien die Lehrer noch nicht von der Vielzahl an Migrantenkindern im Unterricht überfordert gewesen. Heute seien die Verhältnisse etwas anders.

Ein Teilnehmer merkt zur Özil-Debatte an, nach seiner Erinnerung sei die von Can beschriebene Reaktion der Öffentlichkeit erst dann eingetreten, als Özil dem durch sein Schweigen zum Photo mit Erdogan entstandenen medialen Druck nicht mehr standhielt und pauschale Rassismus-Vorwürfe erhob. Gündogan selbst habe sich frühzeitig erklärt und nie Rassismus-Vorwürfe erhoben. Selbst dann nicht, als er von den Leitmedien wie die WAZ in einem langen Interview mehrfach in diese Richtung gedrängt wurde. Diesen Eindruck möge Herr Can vielleicht bei Gelegenheit einmal nachprüfen.

Abschließend drei Antworten auf die Frage aus dem Publikum, ob Patriotismus notwendig sei und wie man ihn bewerten müsse. Jede Antwort ist irgendwie idealtypisch.

Frau Erdas (Integrationsrat): Patriotismus sei grundsätzlich positiv zu bewerten. Man könne stolz sein auf das, wo man lebe. Man dürfe sich vor diesem Begriff nicht scheuen, sonst gebe man ihn an die Falschen ab.8

Herr Can nennt Vaterland und Patriotismus Begriffe, die eine Zeitlang geholfen hätten, sich zu vergemeinschaften. Um klarer zu sehen, müsse man eine Mond-Erde-Perspektive einnehmen; dann gebe es keine Grenzen. Heute gehe es um Werte, um einen Verfassungspatriotismus. Die Länder, in denen er auch gerne leben würde (bzw. es sich vorstellen kann) sind die westeuropäisch geprägten Länder einschließlich der USA und Kanada.

Herr Ruschke wiederum „tut sich schwer“ mit dem Patriotismus-Begriff. Er möchte höchstens vom Verfassungspatriotismus positiv sprechen. Stolz sein „mag ich auch nicht so“. Es gehe vielmehr um einen gemeinsamen Wertekonsens.

Das nimmt Herr Can noch einmal zum Anlaß, sein Ziel zu formulieren: Er möchte sicherstellen, daß alle die Freiheit haben, ihre Werte zu leben.



1Eine Lesung am 7. 9. 2022 auf Einladung u.a. des „Bündnisses gegen Rassismus“.

2Seite 57. Weiter unten: „Ich hingegen bin in Deutschland aufgewachsen und fühle mich in diesem Land emotional aufgehoben, werde langfristig hier leben, arbeite hier und habe die deutsche Staatsangehörigkeit – für mich Grund genug, mich als Deutschen zu sehen.“

3Dichotomie: Zweiteilung ohne Schnittmenge.

4Auf Nachfrage im Anschluß des Vortrages erläuterte Herr Can, daß er den Begriff „Biodeutscher“ nicht benutze, wollte ihn aber auch nicht bewerten.

5Eine Internetkampagne, in der Nichtdeutsche über Rassismus-Erfahrungen berichteten.

6Im Buch S. 52ff anschaulich an einem persönlichen Gespräch beispielhaft beschrieben.

7Im Buch wird dieser wichtigen Frage an keiner Stelle systematisch nachgegangen. Cans Vorstellung vom ehemals ethnisch homogenen Deutschland setzt das Zusammenfallen von Staatsbürgerschaft (deutsch; als juristische Kategorie) und individueller Identität (deutsch als kulturelle Kategorie) voraus. Als Folge einer Massenzuwanderung löst sich diese Verbindung auf, wird durch die doppelte Staatsbürgerschaft (die immer auch eine Aussage über sich selbst darstellt) ersetzt und wirft ab einem gewissen Umfang die Frage nach der Loyalität des Einzelnen gegenüber diesem Lande auf.

8Einer der Falschen saß im Publikum.