Am 24. 5. 2021 erklärte Martin Schiller, stellvertretender NRW-Landessprecher und Kreissprecher von Münster, seinen Austritt aus der AfD und begründete diesen Schritt damit, daß es für ihn „keine Perspektive und keine gestalterische Zukunft [in der AfD] mehr gibt.“ (von E. Noldus.)

Der Text als pdf-Datei: 20210624b_Schiller_Austritt

Die Austrittserklärung per Mail machte am 24. Mai die Runde in den sozialen Medien; praktisch unmittelbar nach dem Ende des Parteitages in Siegen, auf dem die NRW-Landesliste für die Bundestagswahl 2021 aufgestellt worden war.

Auf dem Bundesparteitag in Dresden und auf dem NRW-Parteitag in Siegen, so Schiller, sei die Mehrzahl der Delegierten „fast nur noch mit völkischen Themen, Zuwanderungskritik und überzogenen Maximalforderungen abzuholen.“ Themen wie „Steuern“, „Mittelstand“ und „gesellschaftliche Folgeschäden durch die Corona-Maßnahmen“ hätten leider keine Rolle gespielt. Schiller prophezeit der AfD im Westen nur noch einen Kampf – den gegen die 5%-Klausel.

Der in weiten Teilen der Partei unbeliebte und im Führungsstil herrische Landessprecher der AfD NRW sei bei seiner Spitzenkandidatur mit 53% nur sehr knapp seinem politischen Ende entkommen, so Schiller weiter. Am 22. Mai – in Siegen – habe man es einen Tag lang nicht geschafft, den Listenplatz 14 zu besetzen und damit sei die Spaltung des Landesverbandes offenbar geworden.

Die Schuld liegt laut Schiller beim Landesvorstand, der das „einst wirkungsstarke bürgerliche Lager“ bekämpft habe und sich auf einen „opportunistischen Neo-Flügel mit starker Unterstützung eines aus Eigeninteressen gespeisten Kölner Klüngels“ stütze.

Diesen Opportunisten, Intriganten, Extremisten und Radikalen habe die AfD eine zu erwartende Beobachtung des Verfassungsschutzes zu verdanken. Die breite Wahrnehmung der AfD als „Verfassungsfeinde“ werde dazu führen, daß AfD-Mitglieder „aus der Mitte der Gesellschaft“ die Partei verlassen und damit „eine weitere Radikalisierung, eine weitere Verpöbelung“ eintreten werde:

„Der Versuch eine bürgerliche und konservative Kraft, als Gegenangebot für eine immer weiter nach links/rot/grün driftende CDU zu etablieren, ist leider gescheitert“, schließt Schiller seine Austrittserklärung. Seinen loyalen Unterstützern dankt er und wünscht diesen „weiter viel Erfolg im Kampf für ein besseres Deutschland. Für mich ist dieser Kampf als Politiker ausgekämpft.“

In den Medien lag das Hauptaugenmerk natürlich auf einer einzigen Begründung Schillers. Im Münsteraner „Wiedertäufer“ vom 27. Mai hieß es, Schiller habe mit seiner mittelstands- und wirtschaftspolitischen Schwerpunktsetzung nicht punkten können – im Gegensatz zur innerparteilichen Konkurrenz mit ihren „völkischen Maximalforderungen.“

Allerdings unterließ es selbst der WDR nicht, in seiner Meldung vom 25. Mai auf die umstrittene Stellung Schillers in seinem Kreisverband Münster hinzuweisen. Dem bereits zitierten „Wiedertäufer“ lag ein Schreiben des Münsteraner Kreisverbandes vor. Darin wurde ein außerordentlicher Parteitag beantragt mit dem einzigen Punkt der Abwahl des Vorstandes. Zu den Mitunterzeichnern gehörte auch der stellvertretende Kreissprecher Holger Lucius.

Die Austrittserklärung Schillers hinterläßt einen zwiespältigen Eindruck – so wie seine politische Laufbahn in Münster. Bei der Bundestagswahl 2017 zogen 15 Kandidaten aus NRW in den Bundestag ein; Schiller blieb mit seinem Platz 16 auf der Landesliste außen vor. In der Folgezeit – nach Lucassens Wahl zum Landessprecher im Oktober 2019 – stand er innerparteilich diesem nahe, obwohl gerade Teile des Bezirksverbandes Münster (dem Kreisverband übergeordnete Organisationsebene, dem Regierungsbezirk flächengleich) Lucassen kritisch beäugten. Schiller selbst sah sich in Münster von dem typischen Milieu einer Studentenstadt stets auch persönlich angefeindet. Aus dieser linksgrünen Ecke kommen auch die Vorwürfe, Schiller selbst habe sich teilweise einer „völkischen“ Diktion befleißigt.

Wahr ist allerdings, daß „deutsch“ gegenwärtig in der politischen Debatte ein gemiedenes Unwort darstellt, und bestimmte Kreise daran arbeiten, es zum Schimpfwort zu machen – was ihnen zweifellos gelingen wird. Bis dahin muß es der Begriff „völkisch“ tun, der heute von historisch vollkommen ungebildeten Journalisten und solchen, die sich dafür halten, inflationär gebraucht wird.

Es ist wohl die Kombination aus einer anhaltend erfolglosen Wirkung auf die Wählerschaft nach außen in einem sehr schwierigen Umfeld und den Reibungen nach innen, die ihre Wirkungen hinterlassen haben. Anders ist der Austritt nach dem Parteitag in Siegen (15./16. und 22./23. Mai 2021) nicht zu erklären.

Beim Listenplatz 1 konnte sich Lucassen tatsächlich nur knapp mit 264 gegen 230 Stimmen durchsetzen. Allerdings ist festzuhalten, daß „knapp“ ein relativer Maßstab ist. In der noch immer jungen AfD sind breit etablierte Interessengruppen und berechenbare Wahlergebnisse eben nicht wie bei den anderen Parteien gegeben. Die stärksten Ergebnisse fuhren Renner (Platz 4: 282 gegen 146 Stimmen ohne Gegenkandidat), Espendiller (Platz 6 mit 311 gegen 135) und Helferich (Platz 7 mit 300 gegen 66 plus 80 Nein) ein.

Wer aus den Zahlen eine Spaltung des Landesverbandes herauslesen möchte, kann dieses tun; jedoch: In Siegen war gerade nach dem Gezerre um den Listenplatz 14, der wegen eines etwa 80 Stimmen starken Blockes destruktiver Nein-Stimmen einen ganzen Tag lang nicht besetzt werden konnte, eines klar: Die Zeiten, in denen (wie unter Pretzell) starke Minderheiten selbst unter Gefahr für den innerparteilichen Frieden bekämpft wurden, möchte die überwältigende Mehrzahl der „normalen“ Delegierten nicht wieder erleben müssen.

Schiller selbst trat auf Listenplatz 10 an mit der Kalkulation, daß die Schwergewichte bereits ihre Listenplätze hatten und – gewissermaßen als Lohn für seine Loyalität gegenüber dem Landesvorstand – er ein großes Lager hinter sich hätte. Er schaffte ganz knapp den Sprung in die Stichwahl und mußte sich mit 306 gegen 121 Stimmen Eugen Schmidt geschlagen geben. Damit endete sein erneuter Versuch, in den Bundestag einzuziehen.

Die Aussagen Schillers über den Landesvorstand in der Austrittserklärung sind als ein Ausdruck menschlicher Enttäuschung aufzufassen. Bei allem Verständnis dafür muß man sich darüber klar sein: Je höher man steigen will, desto tiefer kann man fallen. Wir behaupten, die Erkenntnis von der eigenen Begrenztheit seiner Wirkung hat Martin Schiller zum Austritt veranlaßt. Hier spielen auch Dinge hinein, die mit den internen Reibungen des Kreisverbandes Münster zusammenhängen.

Richtig ist allein die Beobachtung Schillers, daß der politische Erfolg der AfD im zahlenmäßig größten Bundesland von bestimmten Faktoren abhängig ist:

Einmal muß der Landesvorstand berücksichtigen, daß es auch zu seiner Aufgabe gehört, verschiedene Parteiströmungen zu integrieren. Wer – wie die AfD – programmatisch breit als Volkspartei aufgestellt ist, sieht sich dabei besonderen Herausforderungen gegenüber, die auch die Fähigkeit umgreifen, im persönlichen Umgang gewinnend und konziliant aufzutreten.

Von einer gewissen Überschätzung – oder Fehleinschätzung – zeugt die Behauptung, der eigene Austritt sei in einem größeren Zusammenhang zu sehen: als Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen „Bürgerlich-Konservativen“ und einer Koalition aus Opportunisten und Extremisten.

Richtig ist, daß die Medien jede Gelegenheit nutzen, die AfD zu diffamieren, indem einzelne Äußerungen aus ihrem Zusammenhang gerissen und skandalisiert werden, bis man der betreffenden Person ein Etikett angeheftet hat. Spätestens dann ist die Diffamierung ein fester Bestandteil der „Wahrheit“ geworden, welche der Öffentlichkeit bei jeder Gelegenheit aufs neue präsentiert wird.

Die Behauptung, daß der eigene Austritt die logische Konsequenz eines Abdriftens der AfD „nach rechts“ darstellt, ist ein Topos in der öffentlichen Debatte. Der ehemalige AfD-Abgeordnete Uwe Kamann hat idealtypisch bei all seinen öffentlichen Äußerungen diesen Topos in geradezu kultischer Weise vorgetragen. Er ist trotzdem vollständig in der Versenkung verschwunden, weil er nie begriffen hat, daß er nur ein Rollenklischee der Leitmedien bedient hat und er nur so lange interessant war, wie er als Person des öffentlichen Lebens dieses Klischee zu bedienen bereit war.

Wenn man den Parteitag von 2017 in Oberhausen mit jenem von Siegen 2021 vergleicht, fallen zwei Dinge ins Auge: Die Delegierten sind von ihrem äußeren Erscheinungsbild einheitlicher geworden, ein bestimmter Typus fehlt inzwischen fast vollständig. Bei den Redebeiträgen der Kandidaten in Siegen ging es sehr sachlich und faktenbetont zu. Es gab insgesamt nur zwei Redner Marke „Sportpalast“, die dann auch gnadenlos abgestraft wurden. Von hier aus ist die von den Leitmedien herbeigeschriebene (und ersehnte) Radikalisierung nicht auszumachen.

Die Drohung des regierenden Kartells der Altparteien mit dem Verfassungsschutz ist Teil der politischen Auseinandersetzung, die von seiten der AfD und ihrer Exponenten ein besonders hohes Maß an Klugheit, Durchhaltewillen und Einsatz im Kampf um die Gunst des Wählers erfordern.

Unter diesen Umständen ist es sehr schwer, dem von außen ausgeübten Druck zu widerstehen – gerade und besonders dann, wenn dieser in den persönlichen Bereich übergeht. Darauf zielt Schillers Bemerkung vom Aderlaß der AfD bei den aus der Mitte der Gesellschaft stammenden Mitgliedern.

Andererseits wird dadurch ein permanenter Ausleseprozeß in Gang gesetzt, der sehr schnell dazu führt, daß nur noch wirklich politikfähige Leute in höhere Positionen aufsteigen, die zudem ein gehöriges Maß an Beschußfestigkeit mitbringen.

Martin Schiller hat diesem Druck offenbar nicht standgehalten.