Auf dem Wege zu einer Fraktionssitzung am 8. Mai entstand eine Momentaufnahme am Hauptbahnhof, die uns symptomatisch für einen geistigen Wandel zu sein scheint. Von E. Noldus.
Der Text als pdf-Datei: 20250527_Demo_20250508
Eine ganz normale Szene am Hauptbahnhof: Eine Demonstration der linken Szene aus Anlaß der 80. Wiederkehr der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945. Unschwer zu erkennen ist die geringe Beteiligung; und trotzdem scheint etwas anders zu sein.
Rückblende: Am 8. Mai 1985 hielt der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker eine Rede, die in die Geschichte eingegangen ist. Seine Eingangsbemerkungen würden heute im Verfassungsschutzbericht als Kennzeichen völkischen Gedankengutes auftauchen:
„Viele Völker gedenken heute des Tages, an dem der Zweite Weltkrieg in Europa zu Ende ging. Seinem Schicksal gemäß hat jedes Volk dabei seine eigenen Gefühle. Sieg oder Niederlage, Befreiung von Unrecht und Fremdherrschaft oder Übertragung zu neuer Abhängigkeit, Teilung, neue Bündnisse, gewaltige Machtverschiebungen – der 8. Mai 1945 ist ein Datum von entscheidender historischer Bedeutung in Europa. Wir Deutsche begehen den Tag unter uns, und das ist notwendig.“
Und etwas weiter heißt es:
„Der 8. Mai ist für uns Deutsche kein Tag zum Feiern. Die Menschen, die ihn bewußt erlebt haben, denken an ganz persönliche und damit ganz unterschiedliche Erfahrungen zurück. Der eine kehrte heim, der andere wurde heimatlos. Dieser wurde befreit, für jenen begann die Gefangenschaft.“
Damals lebten noch zuviele Zeitzeugen, als daß man das Kriegsende einseitig als „Befreiung“ – und nur als Befreiung – umdeuten konnte. Es war Weizsäckers Umschreibung der Vertreibung von Millionen Deutschen als „erzwungene Wanderschaft“, die damals eine heftige – und nicht eindeutig endende – Debatte auslöste: War der 8. Mai ein Tag der Befreiung oder der Niederlage?
Im Sommer 1986 tobte ein erbitterter Streit unter Historikern über die Frage: Ist der Nationalsozialismus historisierbar oder nicht? Mit anderen Worten: Durfte man das Dritte Reich als Forschungsgegenstand in gleichem Maße „ohne Zorn und Eifer“ betrachten wie andere Forschungsgegenstände auch?
Im Mittelpunkt des Streites stand Ernst Nolte, der in den 1960er Jahren durch bahnbrechende Arbeiten über Faschismustheorien international Anerkennung gefunden hatte. Er hatte nicht nur einen Blick auf die verschiedenen faschistischen Bewegungen in Europa geworfen, sondern auch die Frage untersucht, ob der Nationalsozialismus unter den Faschismus-Begriff einzubeziehen sei oder tatsächlich eine besondere Stellung einnahm. In Weitertreibung seines Ansatzes spannte Nolte in den 1970er Jahren den Bogen weiter und versuchte sich an einer Totalitarismus-Theorie, die das 20. Jahrhundert als Kampf der Demokratien westlichen Typs gegen totalitäre Ideologien interpretierte. Sein Buch „Der europäische Bürgerkrieg 1917 bis 1945“ aus dem Jahre 1987 bildete in gewissem Sinne den krönenden Abschluß seiner ein Vierteljahrhundert betriebenen Forschungen.
Dieses Buch geriet in die Ausläufer des Historikerstreits und erledigte Noltes Reputation: Seine Totalitarismus-Theorie suchte nach Gemeinsamkeiten zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus, ohne die Unterschiede – vor allem die als „Endlösung“ umschriebene Ausrottung der europäischen Juden – aus dem Auge zu verlieren. Jetzt aber kollidierte sein Bemühen zu einem umfassenderen Verständnis für die Geschichte des 20. Jahrhunderts mit dem Anspruch einer Mehrheit seiner Berufskollegen, die Einzigartigkeit des Nationalsozialismus zu betonen und eben nicht „ohne Zorn und Eifer“ das Vergangene zu rekonstruieren.
Den unüberwindbaren Zwiespalt, den Weizsäcker in seiner Rede ausgedrückt hatte, wurde von Andreas Hillgruber in einem kurzen, aber brillant geschriebenen Büchlein vom „zweierlei Untergang“ 1986 aufgedeckt:
Solange die deutsche Ostfront hielt, waren die Deutschen in Sicherheit, während zugleich die Vernichtungslager im Generalgouvernement die mörderische „Endlösung“ umsetzten. Umgekehrt besiegelte die deutsche Niederlage das Schicksal von Millionen Deutscher im Osten Deutschlands, von denen eine bis heute nicht genau bekannte Zahl nach Kriegsende umkamen; ganz zu schweigen vom Verlust der Heimat für die Überlebenden.
Einige Jahre später dominierte die Erzählung vom 8. Mai als „Tag der Befreiung“ das politische Selbstverständnis des herrschenden Systems. Je mehr die Zeitzeugen aus der Öffentlichkeit verschwanden, desto fanatischer wurde die „Befreiung“ beschworen – und alles andere ausgeklammert.
Bis heute sind die genauen Bevölkerungsverluste der Deutschen unbekannt. Mit Ausnahme von Elsaß-Lothringen (wo sie sprachlich assimiliert wurden), Belgien und Nordschleswig (wo sie als deutsche Minderheiten weiterbestanden) wurden sie außerhalb des heutigen Deutschland ausgerottet und vertrieben oder dezimiert.
Auch das ist mit dem 8. Mai verbunden – aber die Perspektive deutscher Opfer war – und ist – ein politisches Tabu.
Die Demonstranten, die sich bei schönstem Mai-Wetter am Hauptbahnhof eingefunden hatten, sahen bloß die „Befreiung vom Faschismus“ und nichts anderes. Sogar zwei sowjetische Fahnen waren zu sehen.
Etwas ist jedoch anders: Es fehlte dieses Mal, obwohl doch die „80“ ein einigermaßen rundes Datum darstellt, der penetrante Befreiungs-Lärm. Und im Gegensatz zu Weizsäcker, dem 1985 das ganze deutsche Volk – welch‘ ein anachronistischer Ausdruck! – gelauscht hatte, hörte dem Bundespräsidenten bei „diesem“ 8. Mai niemand zu. Was bedeutet dieser Tag auch den Fachkräften, die auf deutschen Straßen „Das Kalifat ist die Lösung“ propagieren?
Und den Deutschen außerhalb des linksgrünen Paralleluniversums war eine gewisse Reserve anzumerken. Der Überfall Rußlands auf die Ukraine ist auch hier ein Katalysator des Wandels. Das Bild von der Roten Armee als Befreier vom Faschismus ist befleckt durch die Kriegsverbrechen russischer Soldaten an Ukrainern. Diese Verbrechen sind nicht, bedingt durch einen Überfall, durch Besatzung, durch Tod und Zerstörung, aus Rache geboren worden.
Diese Verbrechen wurden begangen, weil in Rußland ein verbrecherisches System die Menschen zu Verbrechern werden läßt, niederen Instinkten keinen Einhalt gebietet. Und damit schließt sich der Kreis, denn die Verbrechen der Roten Armee erscheinen damit unweigerlich in einem neuen Licht.