Das Thema wird offenbar totgeschwiegen: Seit März/April 2020 gibt es keinen Stadtrat mehr in Oberhausen. In periodischen Abständen ist eine solide Zweidrittelmehrheit der Stadtverordneten bitter entschlossen, vor ihrer Verantwortung gegenüber dem Wähler zu entfliehen. Wir versuchen eine kurze Darstellung und Bewertung der Vorgänge zu geben in der Hoffnung, daß sich daran eine öffentliche Debatte anschließt.

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Wo ist der Stadtrat geblieben?

Von E. Noldus.

Seit März/April 2020 hat der Stadtrat als das „Herzstück der Demokratie“ (OB Schranz am 16. 11. 2020 in seiner Antrittsrede) seine Kompetenzen an den Haupt- und Finanzausschuß abgegeben. Was das auf kommunaler Ebene für die parlamentarische Demokratie bedeutet, ist kein Thema für die Leitmedien. Darum leisten wir hier etwas Aufklärungsarbeit und eine erste Bestandsaufnahme.

Der unauffällige Beginn…

Am 25. März 2020 berichtete die WAZ eher beiläufig in einem einspaltigen Artikel, daß die „nor­male Ratssitzung mit üblicherweise 80 Teilnehmern“ ausgefallen sei. Um handlungsfähig zu blei­ben und gleichzeitig das Infektionsrisiko so gering wie möglich zu halten, handele ein auf 15 Mit­glieder reduzierter Hauptausschuß mit Dringlichkeitsentscheidungen, wie sie durch die NRW-Ge­meindeordnung rechtlich abgesichert seien. „Die politischen Kräfteverhältnisse wurden bei der Re­duzierung natürlich beachtet… So kam es… zu schnellen Entscheidungen und zu keiner nennenswer­ten politischen Debatte. Konzentriert arbeitete der Hauptausschuß die wesentlichen Themen zügig ab.“

Der Stadtrat mußte formal Dringlichkeitsentscheidungen des Hauptausschusses bestätigen, was nach einer Abstimmung per Mail Ende April nicht mehr nötig war. Mit einer Zweidrittelmehrheit stimmte der Rat der Übertragung seiner Kompetenzen an den Hauptausschuß zu. Begründung: Der Stadtrat könne bei einer Sitzung im Ratssaal das vorgeschriebene Abstandsgebot (Corona) nicht ein­halten. Die Handhabe dazu bot ein neues Gesetzt der NRW-Landesregierung vom 14. April.

Diese in der WAZ am 24. 4. 2020 ebenfalls eher beiläufig mitgeteilten „vorübergehenden“ Regelun­gen sind nach wie vor in Kraft. Auch in der Folgezeit ist das Thema „Kompetenzübertragung an den Hauptausschuß“ den Leitmedien keinerlei Berichterstattung wert gewesen. Warum eigentlich? Da­bei hat sich hier unbemerkt ein fundamentaler Wandel in den Institutionen der Kommunalpolitik vollzogen, der – obgleich nur temporärer Natur – einer näheren Betrachtung lohnt.

In dem WAZ-Bericht vom 25. 3. 2020 ist das Bemühen erkennbar, den Anschein der Normalität zu erwecken. Die politischen Kräfteverhältnisse des Stadtrates (59 Mitglieder) seien bei der Reduzie­rung auf die 15 Mitglieder des Hauptausschusses natürlich beachtet worden. Schnelle Entscheidun­gen ohne nennenswerte politische Debatte – das suggeriert beherrschtes Handeln in einer Notsituati­on.

Wir werden beleuchten, daß diese Darstellung – bewußt – völlig am Kern der Sache vorbeigeht, müssen dabei aber etwas weiter ausholen und konzentrieren uns auf das Wesentliche.

Die Rolle der Ausschüsse

Die politische Willensbildung wird in (beschlußfähigen) Ausschüssen und (nichtbeschlußfähigen) Beiräten vorbereitet. Auf der einen Seite des Tisches sitzen die Spitzen der Verwaltung, auf der an­deren Seite die im Ausschuß stimmberechtigten Politiker. Nach einem in der Gemeindeordnung NRW vorgegebenen Verfahren (Hare-Niemeyer) ist gewährleistet, daß die stärksten Fraktionen des Stadtrates auch in jedem Ausschuß am stärksten vertreten sind.

Das Ausschußwesen trägt der Tatsache Rechnung, daß die verwaltungstechnischen Probleme einer Großstadt angesichts ihrer Vielfalt nur durch Arbeitsteilung gelöst werden können. Die Ausschüsse sind daher stets fachbezogen (Schule, Soziales, Wirtschaft und Digitalisierung, Sport usw.) und im Idealfall von den jeweiligen Spezialisten der im Rat vertretenen Parteien besetzt. Die von einer Par­tei in einen Ausschuß entsandten Sachkundigen Bürger müssen dieser Partei nicht angehören. For­mal gibt es in den Ausschüssen keine Fraktionen, was deren technischen und sachorientierten Cha­rakter zusätzlich unterstreichen soll, aber natürlich sind auch dort die parteibezogenen Gruppenbil­dungen für die Arbeitsergebnisse vorentscheidend.

Immerhin wird durch die hohe Zahl der Ausschüsse und Beiräte eine interessierte Öffentlichkeit ge­bildet, die durch ihre Kenntnisse in den jeweiligen Sachgebieten eine Beteiligung an bzw. eine Kon­trolle von Verwaltungsentscheidungen gewährleisten soll.

Mehr als ein Dutzend nach Sachgebieten organisierte Ausschüsse und Beiräte in Oberhausen sollen also fachbezogene Vorlagen zur Entscheidung im Stadtrat vorbereiten. Die erwähnte Kontrolle setzt allerdings profunde Kenntnisse und – eigentlich – ein weniger ausgeprägtes politisches Lagerden­ken voraus.

Die Notwendigkeit der Arbeitsteilung bringt unweigerlich das Problem der Zusammenführung in konkrete Entscheidungen mit sich. Die Gemeindeordnung sieht sogenannte Pflichtausschüsse vor, die also jede Kommune unbedingt bilden muß. Das sind der Haupt- , der Finanz- und der Rech­nungsprüfungsausschuß, die man – etwas gewaltsam zugegebenermaßen – auf Vereinsebene mit Vorsitzender, Kassierer und Kassenprüfer gleichsetzen könnte.

Dem Hauptausschuß (HA) obliegt es, die Grundlinien der Verwaltungsgliederungen zu bestimmen und die Abgrenzung der Kompetenzen zu organisieren. Es ist erlaubt, ihn mit dem Finanzausschuß zu einem „Haupt- und Finanzausschuß“ (HFA) zu vereinen. Die Bedeutung von HA bzw. HFA er­kennt man schon daraus, daß der Oberbürgermeister von Amts wegen den Vorsitz inne hat. Diese Position bildet eine Mittelstellung zwischen Fachbeamter und Parteipolitiker, zwischen Stadtver­waltung und Stadtrat.

Die Kompetenzverlagerung als Betrug an 1153 Wählern

Der Hauptausschuß hatte zum Schluß der vergangenen Wahlperiode (31. 10. 2020) 24 stimmberech­tigte Mitglieder, der Finanz- und Personalausschuß hatte 23 Mitglieder.

Aktuell sind von 47 Ausschußmitgliedern sind nun durch die Zusammenlegung 22 im HFA übrigge­blieben. Der Oberbürgermeister führt den Vorsitz, während 21 Plätze nach dem Hare-Niemeyer-Verfahren vergeben wird. Zum Vergleich geben wir in der unteren Reihe die Fraktionsstärken an. Der fraktionslose OfB-Stadtverordnete Horn zählt nicht mit, da er nur in beratender Funktion (ohne Stimmrecht) am HFA teilnehmen kann.

7+1

7

3

1

1

1

1

19

19

8

4

3

2

2

Hinweis: Einen Antrag des Stadtverordneten Horn auf Stimmrecht hat es in der Sitzung am 16. 11. 2020 nicht gegeben. Die in der Pressemitteilung vom 3. 2. 2021 gegebene Darstel­lung beruht auf einem Irrtum. Sein Antrag auf Aufnahme in sieben Ausschüsse als beraten­des Mitglied wurde mit großer Mehrheit abgelehnt, sein Antrag auf zwei Ausschußsitze in beratender Funktion einstimmig angenommen.

Wir haben nun folgende Situation: Von ursprünglich 59 Ratsmitgliedern und 47 Ausschußmitglie­dern (viele als Doppelnennungen) sind nach der Zusammenlegung zum HFA 22 übriggeblieben und der Rat hat sich selbst auf unbestimmte Dauer in die Ferien geschickt. Der von 1153 Oberhausenern gewählte OfB-Vertreter Horn ist damit um sein Mandat gebracht und seine Wähler um ihr Vertre­tungsrecht betrogen worden.

Formal hat alles seine Ordnung: Die NRW-Landesregierung stellt auf der Grundlage eines Gesetzes vom 14. 4. 2020 eine „epidemische Lage von nationaler oder landesweiter Tragweite“ in Abständen von etwa zwei Monaten fest. Auf dieser gesetzlichen Grundlage wird in Oberhausen die Kompe­tenzverlagerung in den HFA möglich und dann bei erneuter Feststellung der „epidemischen Lage“ vom Stadtrat mit Zweidrittelmehrheit bestätigt.

Die AfD-Ratsfraktion hat in der konstituierenden Sitzung des Stadtrates am 16. 11. 2020 den Antrag gestellt, die Kompetenzen beim Stadtrat zu belassen. Denn nach der Auffassung der Fraktion stellt der Stadtrat innerhalb der auf drei Ebenen wirkenden parlamentarischen Demokratie – Bund – Land – Kommune das Parlament auf kommunaler Ebene dar. Die Hauptsatzung der Stadt Oberhausen be­zeichnet daher in § 4 den Stadtrat als deren oberstes Organ. Und auch Oberbürgermeister Schranz hat in seiner damaligen Antrittsrede den Stadtrat als das „Herzstück der Demokratie“ bezeichnet und es lebhaft bedauert, daß mit dem Wechsel von fast der Hälfte der Ratsmitglieder ein großer Schatz an politischer Erfahrung verloren gegangen sei. Um so erstaunlicher war es für die AfD-Fraktion zu beobachten, daß die fundamental wichtige Entscheidung der Kompetenzübergabe an den HFA ohne jede Debatte stattfand und die Bestätigung der Selbstentmachtung geradezu im Gleichschritt erfolgte.

Jeder Wähler hat doch eigentlich im Sinn, einen Sprecher für die eigenen Interessen zu wählen – den Mandatsträger. Wenn dieser Mandatsträger ein einziges Mal abstimmt, um sich selbst nach Hause zu schicken und auf das Ende der Corona-Pandemie wartet, anstatt seiner Verantwortung und seinen Pflichten gerecht zu werden, hat man offenbar dem Falschen sein Vertrauen geschenkt.

Die Zustimmung für die Abgabe der Ratskompetenzen ist am 16. 11. 2020 mit 54 gegen 5 Stimmen erfolgt (AfD-Fraktion plus Stadtverordneter Horn).

Hinweis: In dem Pressetext vom 3. 2. 2020 ist irrtümlich behauptet worden, nur die AfD-Fraktion habe für den eigenen Antrag gestimmt.

Interessanterweise sind die weiteren Abstimmungsergebnisse in Form von e-Mails an die Stadtver­waltung (!) nicht allgemein bekannt gemacht worden; es erfolgten lediglich summarische Angaben Ja – Nein – Stimmen im Ältestenrat sowie zuletzt auch im HFA. Eine eigene Anfrage bei der Stadt­verwaltung ergab folgende Stimmenzahl für die Kompetenzverlagerung:

Die selbst mitgeteilten Gesamtergebnisse 47 gegen 6 (für die Ratssitzung am 14. Dezember) bzw. 44 gegen 6 (für die Sitzung am 8. Februar) waren richtig.

Die Abstimmung in Textform für die Dezember-Sitzung ergab, daß der Oberbürgermeister, die SPD-Fraktion, große Teile der CDU-Fraktion, große Teile der Fraktion DIE GRÜNEN sowie Herr Bruckhoff (BOB) für die Delegierung waren. Die AfD-Fraktion (4 Stimmen), Frau Hansen und Herr Karacelik (LINKE) stimmten dagegen.

Für die Februar-Sitzung ergab die Abstimmung in Textform, daß der Oberbürgermeister, große Teile der Fraktionen SPD und CDU sowie die Fraktion DIE GRÜNEN und Herr Bruckhoff (BOB) für die Delegierung, die AfD-Fraktion (4), Frau Hansen (LINKE) und Herr Lütte BOB) dagegen waren.

Es sind wohlgemerkt keine Enthaltungen mitgeteilt worden, so daß davon auszugehen ist, daß sechs bzw. neun Stadtverordnete einfach nicht abgestimmt haben; darunter offenbar die FDP-Gruppe und der OfB-Vertreter Horn.

Insgesamt ist aber die in Teilen ungenaue Auflistung des Wahlergebnisses symptomatisch für die Heimlichkeit des Vorgangs, denn öffentlich haben sich die drei großen Fraktionen nicht zu ihrem Abstimmungsverhalten in dieser doch wichtigen Frage geäußert. Eine geheime Abstimmung ist nicht beantragt worden; dem Verfasser ist jedenfalls kein solcher Antrag bekannt, der doch sicher in der Antwort der Verwaltung Niederschlag gefunden hätte.

Eine – fast – systemtheoretische Anmerkung zum Schluß

Ein weiterer Nebeneffekt ist die Aufbrechung einer durch die Gemeindeordnung beabsichtigten Ar­beitsteilung: Die Ausschüsse beraten die Vorlagen in Zusammenarbeit mit den Verwaltungsspitzen vor. Die wichtigeren von ihnen durchlaufen die Ausschüsse lediglich zur Kenntnisnahme und erfah­ren gelegentliche Änderungen, damit mindestens SPD und CDU doch auf einen gemeinsamen Nen­ner kommen. Schlußendlich landen sie im Stadtrat zur Beschlußvorlage, wo sie gewissermaßen in der politischen Sphäre öffentlich behandelt werden und die Abstimmung erfolgt.

Damit hat die politische Instanz – der Stadtrat – das letzte Wort, aber gegenwärtig ist das nicht der Fall. So hat der HFA in seiner Sitzung am 1. Februar die Vorlagen nur vorberaten. Der gleiche HFA wird in der gleichen Besetzung die gleichen Vorlagen am 8. Februar kraft der ihm übertragenen Be­fugnisse beschließen.

Man sieht daran, in welche Schieflage das ganze System geraten ist, aber dennoch gibt es keine öf­fentliche Debatte. Warum eigentlich verweigern sich die Leitmedien Oberhausens?

Ein zentrales Argument für die Selbstentmachtung des Stadtrates ist der Schutz der eigenen Person vor Ansteckung, da angeblich Oberhausen keine geeigneten Räumlichkeiten aufweist, um etwa 80 Personen (einschließlich des Funktionspersonals) in Übereinstimmung mit der gegenwärtigen Ge­setzeslage unterzubringen. Am 2. Februar tagte der Integrationsrat im Saal Berlin der Luise-Albertz-Halle. Fein säuberlich waren die mehr als 130 Sitzplätze unter Einhaltung des Abstandsgebotes durchnumeriert.

Soviel zum Abstandsgebot:

Kurz vor dem Sitzungsbeginn des Integrationsrates am 2. Februar: Im Hintergrund sind die Sitzplät­ze mit den 100er-Nummern und der Zugang zu erkennen.