Am 5. 3. 2024 fand im Ratssaal die Veranstaltung „Eine Frage des Vertrauens“ statt. Im zweiten Teil wenden wir uns in kursorischer Form der nach den Vorträgen stattgefundenen Debatte zu. Von E. Noldus.
Der Text als pdf-Datei: 20240310b_Vertrauen_20240305_Debatte
Die Diskussion.
Im ersten Teil Eine Frage des Vertrauens (I). haben wir versucht, den Gedankengängen der beiden Hauptreferenten zu folgen. Es waren dies Prof. Schweer, Leiter des Zentrums für Vertrauensforschung an der Universität Vechta, und der CDU-Politiker Norbert Lammert, u. a. langjähriges Mitglied des Bundestages.
Die Gelegenheit, Fragen zu stellen, wurde sowohl von den Stadtverordneten als auch von den Besuchern auf der Tribüne ausgiebig genutzt. Wir beschränken uns nachfolgend auf einige Anmerkungen, die uns besonders im Gedächtnis haften geblieben sind. Prof. Schweer übernahm es, die Diskussionen zu moderieren.
Zum Problem der Diskrepanz zwischen Vertrauen in Personen und Mißtrauen gegenüber Institutionen.
Lammert: Wenn 9 von 10 in einer Institution gut arbeiteten, würden sie nicht wahrgenommen werden. Es reiche einer, der nicht auf seinen Platz passe, dann wäre das Ansehen der Institution beschädigt. Es liege daran, daß man im Gegensatz zu früher unter Dauerbeobachtung der Medien stehe. Nur das, was negativ sei, sei berichtenswert; und deshalb hätten einzelne Negativbeispiele ein derart großes Gewicht.
Schweer: Immer wieder sei es vorgekommen, daß ihm gegenüber in Gesprächen geäußert worden sei: Wie solle man den Repräsentanten vertrauen, wenn man den Eindruck habe, daß ihnen nicht das Wohl des Landes am Herzen liege, sondern die persönlichen Vorteile wichtiger seien.
Schranz: In den Bürgerdialogen werde er regelmäßig mit solchen Vorurteilen konfrontiert. Was die persönlichen Vorteile angehe (Job, Einfluß, Macht), so stünden diese vielleicht bei ein oder zwei von zehn Kommunalpolitikern im Vordergrund. Die Mehrheit der in der Kommunalpolitik Tätigen habe andere Motivationen, die sich oft aus persönlichen Erfahrungen speisten, mit denen sie „in die Politik“ gingen.
Wenn die Menschen einen Politiker besser kennen lernten, würde das Vertrauen wachsen. Es gebe heute in der Kommunalpolitik nicht mehr so häufig den Typ des Vereinsmeiers wie noch in den 60er und 70er Jahren. Die Distanz sei heute größer geworden.
Zur Legitimation.
Lammert: Es sei doch so, daß die Menschen ihre Interessen hätten und sie verfolgten; Politiker hätten diese Interessen auch. Aber auf allen Ebenen – Bund, Land, Kommune – säßen nur Personen, die gewählt worden seien. Das sei eines der wesentlichen Elemente der Demokratie: Niemand sitze in Gremien, der nicht gewählt worden sei.
Keine Antwort.
Die Schwierigkeiten, Antworten auf konkrete Fragen zu finden, wurden ganz zu Anfang offenbar: Ein Zuhörer bemängelte Fehler in der Politik. Wenn beispielsweise der Offene Ganztag per Gesetz eine den Kommunen auferlegte Pflicht sei, dann hätte die Bundesebene auch die Verpflichtung, dafür die notwendigen finanziellen Mittel bereitzustellen. Ohne diese würde die Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben nicht möglich sein und daraus ergäbe sich ein Vertrauensverlust.
Es ist natürlich, daß Prof. Schweer mit seinem das Individuum in den Mittelpunkt stellenden Zugang zum Thema „Vertrauen“, mit die Individualethik berührenden Aspekten, auf solche Fragen schlecht antworten konnte. Aber auch vom CDU-Politiker Lammert, von dem man doch annehmen sollte, daß er mit diesem grundsätzlichen Problem – Konnexität genannt – in seiner Praxis oft genug zu tun gehabt hatte, kam kein Fingerzeig.
Eine bezeichnende Antwort.
Der Stadtv. Noldus stellte an dem Vortrag von Prof. Schweer heraus, dieser habe sehr strikt zwischen Personen und Institutionen unterschieden, um die sichtbaren Unterschiede in bezug auf das Vertrauen aufzuzeigen. Allerdings sei es doch so, daß die Vertrauenswürdigkeit in die Institutionen durch das Handeln der in ihnen tätigen Personen erhalten bliebe oder geschädigt würde. Die Trennung sei daher seines Erachtens künstlich.
Ein allgemeines Beispiel sei die Tatsache, daß man 2017 der AfD einen Posten im Bundestagspräsidium verweigert habe; dazu habe man eigens die Geschäftsordnung geändert. Es gebe auch aktuelle Beispiele, weshalb auch Leute, die der AfD nicht besonders nahestehen, auf die Ungleichbehandlung aufmerksam machten. Auch der Stadtrat habe seine Glaubwürdigkeit beschädigt. Zu Beginn der Wahlzeit (in der konstituierenden Sitzung 20220/25) seien Ratsvertreter in Gremien gewählt worden. Durch Anwendung des Hare-Niemeyer-Verfahrens würden von sechs Ratsvertretern je 2 auf CDU und SPD sowie je ein Vertreter auf GRÜNE und AfD entfallen. Durch Leihstimmen habe man die Vertreter kleinerer Fraktionen und Gruppen hinein- und den AfD-Vertreter herausgewählt. Das sei zwar im Sinne der politischen Auseinandersetzung legitim, aber es würde nicht gerade zur Glaubwürdigkeit beitragen.
Lammert: Die Geschäftsordnung des Bundestages sei seinerzeit nicht geändert worden (die Einzelheiten der Belehrungen sind uninteressant). Aber es müßten die Vizepräsidenten des Bundestagspräsidiums gewählt werden und er werde die Freiheit der Abgeordneten, jemanden zu wählen oder nicht zu wählen, verteidigen. Seinerzeit – 1932 – habe man Göring als Vertreter der größten Fraktion zum Präsidenten des Reichstages gewählt und damit die Weimarer Republik zerstört.
Lauter Beifall des versammelten historischen Analphabetentums.
Fehlende Selbstkritik.
Der Stadtv. Kempkes (AfD) erklärte, er habe sich von Lammerts Vortrag u.a. eine Stellungnahme zu der Problematik gewünscht, die v. Arnim („Die Hebel der Macht.“) aufgeworfen habe, inwieweit sich die Parteien den Staat zur Beute gemacht hätten.
Lammert: v. Arnim habe von den Politikern Transparenz gefordert in Bezug auf ihre Einkünfte, aber er selber habe sich geweigert, seine Einkünfte offen zu legen mit der Begründung, er sei kein Politiker. v. Arnim sehe sich als Wissenschaftler, hätte aber seine eigenen Interessen vertreten und mit seinen Büchern Geld verdient. Im übrigen seien international die Parteien Träger des politischen Willens in allen Demokratien.
Zum Verbot der AfD.
Eine „verängstigte Bürgerin“, die für sich in Anspruch nahm, die AfD als „rechtsextrem“ bezeichnen zu dürfen, trug von der Tribüne mit zitternder Stimme ihre Befürchtungen vor; etwa daß Höcke nach den Landtagsahlen in Thüringen regiere und fragte nach einem Verbot der AfD.
Lammert: Grundsätzlich sei ein Verbot juristisch sehr schwierig. Es habe zwei erfolgreiche Verbote in den 1950er Jahren gegeben, aber selbst bei der NPD sei man gescheitert. Man könne zwar die Organisation verbieten, aber die politischen Einstellungen, welche sich in ihnen sammelten, würden weiterhin bestehen bleiben. Man würde das Problem nur verlagern, aber nicht lösen. Eine Verbotsdebatte könne ein „ungewünschtes Konjunkturprogramm“ für die Partei sein, die man eigentlich verbieten wolle. Und zuletzt ganz grundsätzlich: Mit dem Konkurrenzverständnis einer Demokratie sei ein Verbot schwer vereinbar. Man müsse allen es ermöglichen, daß deren Meinungsbildung sich in den Parteien entfalten könne.
Warum „verspieltes Vertrauen?“
Wir schicken voraus, daß Prof. Schweer die Diskussion moderierte und auch mehrfach zu aufgeworfenen Fragen Stellung nahm. Wenn er in dieser Auswahl an Beiträgen kaum vorkommt, dann wegen seines wissenschaftlichen Ansatzes. In seinem Vortrag ging es um „Vertrauen“ in psychologischer und mehr noch pädagogischer Hinsicht mit Exkursen in die Individualethik. Letzteres berührte den Politikbereich im Hinblick auf individuelles Handeln, aber uns interessierte das Funktionieren von Politik als System. Mit unserer Auswahl ist also keinesfalls eine Wertung verbunden.
Der zweite Referent, der CDU-Politiker Lammert, beeindruckte durch die Routine seines freien Vortrages in druckreifer und dabei nicht überladener Sprache. Mit seinen historischen Perspektiven beeindruckte er seine Zuhörer, aber nicht den Historiker.
So ist es verfehlt, die deutsche Geschichte mit der Reichseinheit 1871 beginnen zu lassen, da diese Perspektive – aus welchen Gründen auch immer – Preußen vollkommen ausklammert. Die Dauer des Grundgesetzes – 75 Jahre – muß dadurch länger erscheinen, und dessen Bedeutung größer.
Lammerts Feststellung, auch politische Systeme seien sterblich, ist richtig. Nur stellt er nicht die daran anschließende Frage: Ist das aktuell herrschende System ebenfalls sterblich? Und wenn ja, ergeben sich daraus praktische Konsequenzen?
Allgemein sieht man Großbritannien als Musterbeispiel an Kontinuität und moderater Anpassung an sich ändernde Verhältnisse an. Es entspricht geradezu dem Idealbild der in sich selbst ruhenden Demokratie. Seit etwa den 1980er Jahren hat dieses Bild Risse bekommen und hinter der Fassade der konstitutionellen Monarchie entfalten sich dynamische Prozesse von fast revolutionärem Charakter. Man vergleiche nur die inneren Zustände zwischen 1860 und 1910 im Hinblick auf den Parlamentarismus, das System der Parteien und deren innere Verfaßtheit, das Wahlrecht und die Stellung des Oberhauses; letzteres nach 1911.
Das Gegenbeispiel zu diesem revolutionären Wandel durch evolutionäre Prozesse bildet Rußland bzw. die Sowjetunion. 1982 noch Supermacht und ewiger Garant der europäischen Teilung entlang des „eisernen Vorhangs“, war das System, welches Zeit seines Bestehens die internationale Solidarität der Arbeiterklasse und die klassenlose Gesellschaft in quasireligiöser Inbrunst beschwor, zehn Jahre später Geschichte. Die Bruchlinien verliefen dennoch entlang den Nationalismen des Vielvölkerstaates. Die Balten bewiesen den westlichen Linksintellektuellen, welche gewaltigen positiven Energien der Nationalismus als geistige Bewegung freisetzen konnte, um sich von der Fremdherrschaft zu befreien und ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
Eine ehrliche Debatte müßte darüber geführt werden, in welchem Stadium das gegenwärtige System der BRD sich befindet – Lammerts Warnung vor deren Sterblichkeit – und welche Form des Wandels wahrscheinlicher ist.
In einer interessanten Passage seines Vortrages erinnerte er an die Euphorie der Jahre 1989/90 in ganz Europa und an den Glauben an „das Ende der Geschichte“ im Sinne von Francis Fukuyama: Die Demokratie habe sich endgültig als Inbegriff allen menschlichen Fortschritts gegenüber allen anderen Systemen durchgesetzt – danach kommt nichts mehr.
Lammert selbst teilt diesen Glauben – inzwischen ?! – offenbar nicht mehr, aber auch an dieser Stelle versuchte er nicht, Antworten auf die aktuellen Fragen der Zeit zu geben.
Eine überraschende Perspektive ist die der „ernstzunehmenden Demokratien“, von denen der Verfasser gesteht, zum ersten Male gehört zu haben. Wer definiert, was „ernstzunehmend“ bedeutet? Uns scheint, daß Lammert hier die mitteleuropäische Weltsicht zur alleinigen Norm erhebt, an der sich alle anderen Staaten in der Welt messen lassen müssen. Wir erinnern daran, daß der Begriff der Menschenrechte in dieser Perspektive universalhistorischen Charakter besitzt. Dabei erinnert bereits die Kairoer Deklaration der Menschenrechte daran, daß dem eben nicht so ist.
In unserem ersten Bericht haben wir geschrieben:
„Er [Lammert] bringt daran anschließend ein Zitat von Thomas von Aquin: „Vertrauen ist die durch Erfahrung bekräftigte Hoffnung auf die Erfüllung von erwarteten Zuständen – unter der Voraussetzung des Vertrauens auf Gott.“
Lammert fährt dann fort, daß die letzte Voraussetzung heute nicht mehr oder immer weniger gelte. Um dann die Bestandteile des Vertrauens – Erfahrung, Erwartung, Hoffnung – etwas näher zu erläutern. Thomas von Aquin habe mit diesen drei Elementen das Wesen von „Vertrauen“ sehr gut erkannt.“
Lammerts letztlich mangelndes Verständnis vom Wesen der Geschichte offenbart sich in der Leichtigkeit, mit der er das Fundament der Scholastik und ihres vielleicht bedeutendsten Vertreters beiseite räumt – das Vertrauen in Gott. Thomas von Aquin als Zitatensteinbruch!
Wir haben oben die Anmerkungen eines Anwesenden – unserer Erinnerung nach der CDU-Stadtverordnete Rubin – zum Offenen Ganztag wiedergegeben, der damit ein konkretes Beispiel für „Vertrauensverlust“ nannte. Eine Antwort, wie aus der Sicht eines zweifellos erfahrenen Politikers, wie Lammert einer ist, damit umzugehen sei, erhielt der Fragesteller nicht.
Im späteren Verlauf stellte der Stadtverordnete Noldus die gleiche Frage in anderer Form: Wie glaubwürdig könne ein Stadtrat sein, der durch Leihstimmen großer Fraktionen dafür sorgte, daß kleinere Fraktionen und Gruppen in Gremien ihre Vertreter bekamen, wo nach den Gesetzmäßigkeiten des Hare-Niemeyer-Verfahrens eigentlich die AfD zum Zuge gekommen wäre?
Er gab noch den Hinweis, daß Leihstimmen zwar nicht dem Geist der entsprechenden Bestimmungen der Gemeindeordnung entsprächen, aber als Mittel des politischen Kampfes legitim seien. Der unausgesprochene Gedanke dahinter: Auf die Dauer korrumpiert sich das System dadurch selbst.
Das bekanntere Beispiel war das Schauspiel, mit welchem der AfD-Bundestagsfraktion seit 2017 ein Platz im Präsidium des Bundestages verweigert wird. Es hat sich in Landtagen in gleicher oder ähnlicher Form wiederholt.
Ein kritischer Geist würde sich fragen, ob Oberbürgermeister Schranz mit seiner Auffassung Recht hat, daß ein oder zwei Negativbeispiele persönlichen Machtstrebens ganze Institutionen in ihrem Ansehen schädigen und Vorurteile beim Bürger hervorrufen. Oder ob es nicht vielmehr so sei, daß die Glaubwürdigkeit von Institutionen wie etwa dem Stadtrat durch das Handeln der in ihnen wirkenden einzelnen Personen gestärkt oder geschwächt wird?
Lammert ging der vom Stadtverordneten Noldus zum zweiten Male aufgezeigten Problematik aus dem Wege, indem er unter Verweis auf Hermann Göring als Präsident des Reichstages Parallelen zwischen AfD und NSDAP zog.
Mit solch einem lächerlichen Getöse verspielt man das Vertrauen – unwiederbringlich!